Zu viel und falsche Praxis und zu wenig Theorie! Die Seiteneinsteiger-Qualifizierung in M-V

In Mecklenburg-Vorpommern herrscht seit einigen Jahren ein erhöhter Bedarf an Lehrkräften in den Schulen. Insbesondere in den MINT-Fächern sowie in der Grundschule und in der Regionalen Schule fehlen grundständig ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer. Deshalb ist das Land seit längerem gezwungen, zur Abdeckung des Unterrichts Seiteneinsteiger/innen einzustellen, die keine didaktische und pädagogische Ausbildung haben. "Dieses Vorgehen ist eine gewisse Zeit erforderlich, um den bundesweiten Mangel an ausgebildeten Lehrkräften in vertretbarem Rahmen zu kompensieren", meint auch Frau Prof. Retzlaff-Fürst, Direktorin des landesweiten Zentrums für Lehrerbildung und Bildungsforschung. Sie weist jedoch darauf hin, dass es einerseits nicht als alleiniges Mittel herhalten darf und dass es dann Qualifizierungen bedarf, die sicherstellen, dass die Seiteneinsteiger die didaktischen und pädagogischen Fähigkeiten erwerben, die sie für den Umgang mit Schülerinnen und Schülern und das Unterrichten dringend brauchen.

Derzeit steigen diese Lehrkräfte in M-V ohne vorherige Schulung vollständig und eigenverantwortlich mit dem vollen Stundendeputat in den Unterricht ein. Eine Fortbildung, die Voraussetzung für eine spätere Entfristung im Schuldienst ist, wird meist erst Monate nach Einstellung und begonnener pädagogischer Arbeit angeboten. Zudem müssen die Seiteneinsteiger die Fortbildung in der Regel außerhalb der Dienstzeiten wahrnehmen. "Dies ist eine für die betroffenen Lehrkräfte, aber auch für Schülerinnen und Schüler und Eltern unzumutbare Situation", sagt Frau Prof. Retzlaff-Fürst mit Blick auf die Arbeitsbelastung der Seiteneinsteiger und deren Unterricht ohne pädagogische und didaktische Vorkenntnisse. "Schülerinnen und Schüler und Eltern haben ein Recht auf gut ausgebildete Lehrkräfte. Seiteneinsteiger, wenn sie unbedingt notwendig sind, darauf, hinreichend auf diese komplexe Arbeit vorbereitet zu werden." Stattdessen ist auch die Fortbildung selbst stark in der Kritik. Frau Martina J. (Name geändert), die als Seiteneinsteigerin an einer Schule tätig ist und die vom Land angebotene Fortbildung durchlaufen hat, meint dazu: "Die grundlegende Qualifizierung ist inhaltlich, didaktisch und methodisch nicht durchdacht."

Auch die sich anschließende Fortbildung für entfristet im Schuldienst tätige Seiteneinsteiger bleibt weit hinter dem üblichen Umfang und der Qualität der pädagogischen und didaktischen Ausbildung von Lehramtsstudierenden zurück. Dies bemängelt auch Frau Prof. Retzlaff-Fürst, die ergänzend hinzufügt, dass bereits die akademische Lehrerkräftebildung für die wenigen erziehungswissenschaftlichen und didaktischen Anteile kritisiert wird und mit der Seiteneinsteiger-Qualifizierung selbst grundlegende Minimalstandards unterlaufen werden. Für Martina J. steht fest: "In dieser Qualität werde ich nicht an einer weiterführenden Qualifizierung teilnehmen." Die fehlende Orientierung an den Standards der Lehrerbildung und die konzeptionellen Schwächen wurden durch das landesweite Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung immer wieder angemahnt. "Seit 2013 suchen wir umfangreich das Gespräch und unterbreiten dem Land konkrete Vorschläge, wie man die Fortbildung der Seiteneinsteiger/innen verbessern kann und damit die Qualität von Schule und Unterricht sichert - bisher jedoch ohne Erfolg", macht Frau Prof. Retzlaff-Fürst deutlich.

In anderen Bundesländern, wie beispielsweise Hamburg oder Sachsen, werden mit den Universitäten abgestimmte Masterstudiengänge für Seiteneinsteiger entwickelt. Diese Programme orientieren sich stringent an den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz für die Lehrerbildung (KMK) und versuchen, die Qualifizierung adäquat zu gestalten und die Seiteneinsteiger berufsbegleitend zu unterstützen. Jüngst räumte der sachsen-anhaltinische Bildungsminister Marco Tullner ein, dass das dortige Konzept des Seiteneinstiegs "mit der heißen Nadel" gestrickt war und ab dem kommenden Schuljahr grundlegend verbessert wird. Künftig müssen Seiteneinsteiger/innen in Sachsen-Anhalt vor Unterrichtsantritt einen vierwöchigen Vorbereitungskurs durchlaufen und erhalten für die berufsbegleitende Fortbildung fünf Abgeltungsstunden von ihrer Unterrichtungsverpflichtung. Zudem betonte der Bildungsminister Sachsen-Anhalts, dass das Ziel weiterhin die Ausbildung vollwertiger Lehrerinnen und Lehrer sein müsse. Ein Bekenntnis, das Frau Prof. Retzlaff-Fürst sich in dieser Form auch von der hiesigen Bildungsministerin Frau Hesse wünschen würde. Dennoch betont sie weiterhin die Bereitschaft des Zentrums für Lehrerbildung und Bildungsforschung, sich aktiv in die Planungen und Umsetzungen der Qualifizierung der Seiteneinsteiger/innen einzubringen.

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